Taxi zum Flughafen

Heute ist ganz schön was’ los …

Zwei prüfende Augen im Rückspiegel, abschätzender Blick. Wir stehen im Stau.

Meine zwölfte Stunde heute, nach dieser Fahrt ist Feierabend. Bin schon seit 31 Jahren selbständig, da macht man das … nicht so, als wenn man angestellt wäre …

Langsam bewegt sich etwas. Wir nehmen Fahrt auf.

Angestellte habe ich nicht mehr. Nur Ärger. Beulen im Wagen, … Vollgas, Bremsen, Vollgas, Bremsen, immerzu, der Wagen gehört ja nicht ihm, … keinerlei Sorgfalt mit dem Auto, … das geht mir nicht in den Kopf.

Stop-and-Go zwischen Ampeln, zweispurig, ein flüchtiger Blick im Rückspiegel.

Wir haben neulich das Auto meiner Mutter verkauft, Internet-Anzeige. Nachher stellte sich heraus, der Reisepass war gefälscht, wir mussten 6 Monate Steuern und Versicherungen weiter bezahlen. Das Auto haben wir nie wiedergesehen.

Weniger Autos, weniger Ampeln, wir gewinnen ein wenig Geschwindigkeit, die Fahrt gleichmäßiger.

Gut, dass meine Frau immer aufpasst. Eine Vietnamesische Spielbank hat einfach zweimal 150 € abgebucht. Das wird ja leicht übersehen. Aber nicht mit meiner Frau. Die Bank hat alles erstattet … wenn man nur aufpasst …

Endlich zweispurig, 80 km/h, keine Ampel.

Man traut sich keine email mehr einfach aufzumachen, nur keinen falschen Klick machen. Von morgens bis abends aufpassen, dass man nicht über’s Ohr gehauen wird … Wissen Sie, Fake-News, Bildzeitung, Gammelfleisch, Sonderangebot, der Deal deines Lebens, 3 Wochen Türkei im 4 Sterne Hotel, Vollpension, 350 €, inklusive Flug, … das ist doch alles nicht ok.

Die Kurve vor dem Flughafen ist schärfer, es drückt einen in die Seitentür.

Begegnungen in Amerika 2

Shopping auf der 5-ten Avenue
Naples, Florida, Februar 2017

Sheila scannte die Etiketten ein. Sie war 50 unbestimmt, dunkelrot lackierte Fingernägel, dieses Amerikanerinnen-Dunkelrot, sonst ohne viel Make-up. Aufschauend, „Und, … wo kommen Sie her, was machen Sie bei uns hier in der Stadt?“

Sheila ist schon vor 10 Jahren von Boston herunter nach Naples gekommen. Sie ist glücklich, hier zu sein.

„Hier in Naples haben wir einen sehr engagierten Bürgermeister. Er will Naples und seine Bürger zu richtig gesundem Leben motivieren.“ – „Es geht alles um Lebensstil, um den richtigen, gesunden Lebensstil, … wissen Sie, … deswegen fördert unser Bürgermeister gesundes Essen, lokale Produkte, … und man kann Schrittzähler online registrieren.“

Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf in Naples lag 2010 bei über 77.000 USD; im US Durchschnitt lag es bei ca. 37.000 USD. Sheila verdient wohl eher unterdurchschnittlich.

„Wir haben hier viele sehr reiche Leute. Sie sind hier alle sehr freundlich und nett, sehr zuvorkommend, lassen sich das Geld nicht so anmerken – nicht wie in Boston oder New York, wo es hart zugeht …“

Sheila faltet die Enkäufe, verpackt einzelne Teile in weißes Seidenpapier. Beiläufig nennt Sie den Gesamtbetrag zur Bezahlung.

„Ich arbeite nebenbei ehrenamtlich, wissen Sie. Ich kümmere mich darum, Spenden hereinzuholen für unsere Projekte. Das klappt gut, die Leute hier sind einfach großzügig…“

Die große Einkaufstüte ist fertig, der Kreditkartenbeleg gefaltet und sauber in ein kleines Couvert gesteckt.

„Naples ist vor allem eine sehr sichere Gemeinde, wissen Sie, gut für Familien und Kinder. Sehr geringe Kriminalität. Keine Penner. Und gute Schulen gibt es hier.“

Ob Sheila Kinder hat, sagt sie nicht. Ich frage nicht. Sie überreicht mir die Einkaufstüte hinter dem Tresen hervorkommend, mit beiden Händen die Henkel offen haltend.

„Haben Sie einen schönen Tag. Genießen Sie Naples.“

 

Begegnungen in Amerika 1

Dinner bei der Lobster Lady,
Cape Coral, Florida, Februar 2017

Der Geräuschpegel in der Lobster Lady war immens. Die Lobster Lady ist gerade angesagt, auf einen Tisch wartende Paare, Freunde innen und außen stehend und lautstark redend. Der Platz an der Bar – first come, first serve, so wurde mir gesagt–, war am ganz hinteren Ende, nicht gerade der beste, aber nach langem Warten wenigstens ein Platz.

Er sprach mich, selbst noch weiter hinten, fast hinter der Bar stehend, von der Seite an, freundlich lächelnd, dann grinsend. Ich verstand kein Wort, lächelte nickend zurück. Sekunden später, mein Nebenplatz freigeworden, saß er rechts neben mir, streckte die Hand aus.

„Hi, mein Name ist Ed, von wo kommst Du?“.

Ed ist 66 Jahre alt, die Haare grau, Gesicht und Arme an vielen Stellen sonnenverbrannt, wettergegärbt rau, ein paar fast weiße Bartstoppeln im Gesicht. Ed ist im Construction Business, er baut und renoviert Häuser, meist öffentliche Aufträge.

„Mein Junge, wie alt bist Du? – 30 Jahre?“ „Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder?“ Unbewegtes Gesicht, keine Reaktion, für eine Sekunde, dann sein Grinsen. „Ich bin schon 53.“ „Ja, – wir werden alt, Mann, Du weißt schon, und eigentlich fühlen wir uns nicht so.“

Ed war in Vietnam, mit 18 Jahren, sein Vater im Zweiten Weltkrieg in Europa bei der US Army, auch in Deutschland. Für ihn war Vietnam tendentiell Saufen und Pott Rauchen, keine große Politik, keine große Strategie. – „Mann, ich war 18, Du verstehst. Allerdings, heute, heute denke ich, wir hatten einige schlechte Generäle.“

Ed hat, wieder nach Hause gekommen, sein Geschäft aufgebaut. Für Studieren war keine Zeit, bestand keine Möglichkeit. Ed pendelt heute zwischen Ohio und Florida. In Florida boomt Ed’s Geschäft schon eine Weile, und der Winter in Ohio ist nichts mehr für die Knochen.

„Darf ich Dir auch ein paar unangemessene Fragen stellen? Ich entschuldige mich dafür schon jetzt im Voraus, aber ich frage mich diese Dinge schon länger.“ – „Wissen die Deutschen eigentlich, was im Zweiten Weltkrieg wirklich passiert ist? Wißt ihr, was mit den Juden wirlich passiert ist?“ „Werden Juden heute von den Deutschen als Gleich anerkannt?“

Sie wollen Ed nicht aus der Firma kaufen, immer noch nicht. Er macht die Verhandlungen und die Abschlüsse. So muss er eben weiter arbeiten, was soll er machen.

„Siehst Du, wir hier, wir haben wirklich Angst. ISIS ist wirklich schlecht, weißt Du.“ – „Trump, er sagt und macht vielleicht viel Inakzeptables und vielleicht macht er vieles falsch,… ABER … weißt Du, wenn hier die nächste Bombe explodiert, der nächste Anschlag stattfindet …“

Die Rechungen kommen wie automatisch, müssen korrigiert werden, eine Verwechslung zwischen unseren Weinen. Zwei Scherze mit der jungen Frau hinter der Theke.

„Weißt Du, daran merkt man es. Sie nehmen uns einfach nicht mehr ernst. So geht es.“

Und zum Abschied ein fester Händedruck, ein Nicken. „Es war mir ein Vergnügen. Take care.“

Shoppen und Gücklich Kaufen – ein Gedanken-Schnipsel

Neulich auf einer Fahrt durch Hamburg:

„Wir gehen nicht Shoppen,
Wir kaufen uns glücklich!“

Zunächst einmal suggeriert der Ausspruch einen Zustand des Glücklichseins, der durch „Kaufen“ erreicht werden könne. Ohne in eine Diskussion, was Glück sei, tiefer einzusteigen, erscheint glücklich als Seins-Zustand fraglich. Vielmehr sollte man wohl Glück als Moment des Da-Seins interpretieren.

Diese Interpretation zumindest spräche für die Möglichkeit des Hamburger Ausspruchs: Kaufen ist der Moment in dem sich das Begehrte, welches (noch) nicht verfügbar ist, sich erfüllt, in dem es verfügbar wird, das eigene wird. Es ist die Spannung, die sich vor dem Moment des Kaufens aufgebaut hat, die sich gleichsam entlädt und dadurch zum Glücksmoment werden kann. Persönliche Träume, Sehnsüchte, die in den Gegenstand des Begehrens projiziert wurden, solange er nicht verfügbar war, scheinen sich zu realisieren, erleben zumindest einen Moment der Vorstellung ihrer Realisation. Kurz, Kaufen – als Koitus Emptionis.

Natürlich trägt auch das Moment des Kaufens eine Tendenz zur post-koitalen Depression oder Ernüchterung in sich. Ist der Gegenstand der Begierde erst verfügbar, so erden sich die Projektionen, Sehnsüchte und Träume in den Niederungen der alltäglichen Verrichtungen mit dem einst begehrten Gegenstand. Schnell stellen sich seine Beschränkungen, seine Unvollkommenheiten, seine Untauglichkeiten heraus. Im besten Falle bleibt vielleicht die Freude seines Gebrauchs eine Weile bestehen.

Nun war „Shoppen gehen“ schon immer der Idee verbunden, es hätte einen Wert aus sich heraus, man können einen emotionalen Gewinn aus der Tätigkeit des Kaufens selbst erzielen, unabhängig von gekauften Gegenstand, im besten Falle zusätzlich. Mit „Laß’ uns shoppen gehen“ ist per se der Gedanke verbunden, Befriedigung aus der Tätigkeit des Kaufens, nicht aus dem Kauf selbst, zu ziehen. Insofern erscheint der Hamburger Ausspruch zudem noch in sich widersprüchlich.

Nachtfahrten – Briefe II

Verehrte Frau Degen,

noch harre ich, zugegebener Maßen, in neugieriger Erwartung auf Ihre Überlegungen zu meiner These des Tausches von Freiheiten und Abhängigkeiten für eine selbstverordnete Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit. Angesichts der vielfältigen Verpflichtungen, in denen Sie derzeitig verstrickt sind, erscheint mir dies fraglos verzeihlich. Vielleicht aber auch stellt sich nun die moderne elektronische Versendung doch nicht als der zuverläßige Weg heraus, als der er gemeinhin erscheint.

Sie mögen mir bitte verzeihen, daß ich – ihrer Antwort zuvorkommend und nicht im Sinne der Ablenkung von einer solchen – Sie bereits heute schon auf eine weitere Perspektive dieser selbstverordneten Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit hinlenken möchte.

Der selbstverordneten Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit voraus läuft, so legten Sie dar, ein grundsätzlicher Mechanismus, der dem kapitalistischen System immanent sei. Steigendes monetäres Niveau führe nicht etwa irgendwann zur Befriedigung und Sattheit der Ansprüche und Bedürfnisse, sondern – ganz im Gegenteil – scheint die Tendenz in sich zu tragen, die Ansprüche und Bedürfnisse umso mehr in die Höhe zu treiben. Die menschliche Natur neigt in ihrer Bedürfnisbefriedigung klar zum unbegrenzten Maximieren denn zum Saturieren.
– Wenn Sie mir an dieser Stelle den Einschub erlauben: Meiner Einschätzung nach ist gerade die in der Natur des Menschen liegende prinzipielle Unendlichkeit der menschlichen Bedürfnispotentiale durch weiterentwickelnde Spezialisierung und Ausdifferenzierung eben dieser Bedürfnisse der hochwirksame essenzielle Treibstoff des Kapitalismus. –
Eine inverse Bewegung allerdings, so Ihr Argument, erscheint nicht einfach möglich: Eine Verringerung der Ansprüche und Bedürfnisse auf ein sinkendes monetäres Niveau sei eher Verhängnis für den Menschen, denn leicht und zufrieden möglich; – und wer wisse schon, wie unglücklich solche Rückschritte machen könnten, und wie schwierig diese seien? Insofern sei also ein steigender monetärer Status berechtigter Weise mit steigender Sorge und Angst verbunden, was ein vielleicht erzwungener Abstieg bedeutete. Besser also, man vermeide dies und beschränkt sich schon vorauseilend willentlich, so daß diese Angst vor dem Verlust und der Wirkung etwaiger Einschränkungen erst gar nicht sich entwickeln könne.

Im Kern, werte Frau Degen, ist die Angst vor dem Wachsen der Bedürfnisse die Angst vor der Angst des Verlustes und seiner Auswirkungen, gleichsam eine Potenzierung der Angst; sie ist es, die zum selbstverordneten Verzicht führt. Erscheint in einer Perspektive Freiheit gewonnen durch willentliche Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit, so ist es gerade die Angst vor der Bedürfnisbefriedigungsverlustangst, die in sich unfrei macht – denn: die Angst ist die Grenze unserer Freiheit (I. Bergmann). Nicht hohe monetäre Potenz, sondern die Angst vor dem Verlust der monetären Potenz macht unfrei.

Lassen Sie mich – auch auf die Gefahr hin, eine vielleicht in Ihrer Einschätzung zu übertriebene Zuspitzung vorzunehmen – in meinem Argument noch weiter voranschreiten: „Sag’ mir Deine größte Angst, und ich sage Dir Deine größte Unfreiheit“. Denn gerade Angst hat größte formative Kraft auf die Ausgestaltung unseres Da-Seins. In den Lyrics des von mir sehr geschätzten Ben Howard:

I’ve been worrying that we all
live our lives in the confines of fear

Oh’, I will become what I deserve.

Scheint also selbstverordnete Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit in gewisser Hinsicht Freiheiten, immerhin als Tausch gegen Abhängigkeiten, zu schaffen, so erscheint mir – und dies sage ich nicht als Affront, verehrte Frau Degen – die Bewegung dorthin durch eine zugrundeliegende Unfreiheit im Da-Sein getrieben zu sein.

Ich bin nun geneigt, diese Ausführungen einmal so in unserer Diskurslandschaft stehen zu lassen, und diese ganz Ihrer werten Reflexion und Kritik anheim zu stellen – bin ich mir doch bewußt, daß meine Ausführungen zu solcher sicher berechtigten Anlaß geben mögen.

Ich verbleibe hochachtungsvoll,

Alexander J. Morgenthau

Postfaktisches Zeitalter – ein Gedanken-Schnipsel

Wir lebten – so könne man feststellen – neuerdings im „postfaktischen Zeitalter“; – was alles gleich so ein Zeitalter ist. Weithin gilt eine Zeitalter-Typisierung als eine Verallgemeinerung, die beansprucht, in ihrem Begriff die Essenz einer Zeit zu charakterisieren, ein dominantes Merkmal dieser Zeit herauszukristallisieren. „Wir leben heute im digitalen Zeitalter“ – die alle Lebensbereiche und Lebensweisen durchsetzende und durchdringende Digitalisierung kann vielleicht als Zeitalter-Beispiel herhalten, aber das Postfaktische …?!

Ist in diesem Sinne das Postfaktische nicht eher postfaktischer Moment – immerhin als Wort des Jahres 2016 gekürt –? Es sei die deutsche Version des englischen „post-truth“; es beschriebe die Tatsache, dass nicht mehr Fakten zu einer Bewertung entscheidend seien, sondern dass nur noch emotional beurteilt würde; an die Stelle „objektiver Wahrheit“ sei die emotionale, die „gefühlte Wahrheit“ getreten. Aktuell werden gar „alternative Fakten“ angeboten, deren Angebot allein die ursprünglichen Fakten in Frage stellen könne. Aber in aller Offenheit – hatten wir das „faktische Zeitalter“ schon, das Zeitalter, in dem nur die Fakten zählen, oder haben wir das übersprungen, vielleicht gar durchtunnelt?

Das „Fakt“, was da Geltung haben soll, – „X ist Y“ – wie wird das Fakt zum Fakt? Fakten werden durch Aufzeichnungen, Dokumente, Bilder gestützt, sie werden von Historikern, Journalisten, von Menschen aufgezeichnet, interpretiert und weitergegeben, sie sind Artefakte zweiter Ordnung, die „X ist Y“ als Geschehen in der Welt gleichsam repräsentieren. Und solange diese un- oder wenig widersprochen und in sich konsistent sind, gilt das repräsentierte Fakt als Fakt. Entscheidend erscheint die Quelle und die Methode hinter der Dokumentation, der Aufzeichnung und Weitergabe. „Deutschland hat aktuell 81.302.329 Einwohner“ – als Fakt anerkannt zu werden, bedeutete sich Klarheit über die Quelle und insbesondere die Methode hinter der Zählung zu verschaffen.

Etwas wird uns zum Fakt aus den – eigentlich niemals ganz abgeschlossenen, aber willentlich vielleicht durch Anerkennung beendeten – Diskursen zu Geltungskraft und -konsistenz seiner Belege, Dokumentationen und Überlieferungen. Und schließlich wird sie uns vielleicht gar zu (historischen) Wahrheiten – von denen schon Lessing sagte, sie können der Beweis notwendiger Vernunftswahrheiten nie werden.

Dem postfaktischen Moment wohnt allerdings offensichtlich eine starke Dialektik inne. „Fact-Checker“ und dahinterliegende Systeme erfreuen sich großer Beliebtheit; die Recherche-Kapazitäten der Redaktionen großer Medienunternehmen werden drastisch aufgestockt; die Reichweite öffentlicher Diskurse zu Anspruch und Geltung von Aussagen sowie die Bereitschaft, sich an selbigen zu beteiligen, scheint deutlich zu wachsen.

Das ein wenig dämmerig und duselig, das so unsexy gewordene Zeitalter der Aufklärung, es wird gerade angepiekst, vielleicht wiederbelebt – sapere aude!

Nachtfahrten – Briefe I

Verehrte Frau Degen,

eine These aus unserem kürzlich geführten, hoch schätzenswürdigen Gespräch läßt mich nun doch nachhaltig nicht ruhen und beschert mir das eine oder andere Kopfzerbrechen in langen Nächten. Deshalb erlaube ich mir, auf diesem Wege Sie teilhaben zu lassen, dass dieses Kopfzerbrechen nicht nur das meine sei, vielmehr aber auch, dass sich aus den geteilten Gedanken neue ganze ergeben mögen.

Eine selbstverordnete gewisse Anspruchslosigkeit, eine gewisse Bedürfnislosigkeit, vor allem auch in materieller Hinsicht, so führten Sie aus, sei Freiheit. Denn schließlich, jeder Anspruch, jedes Bedürfnis, das vehement nach seiner Befriedigung strebt, auf Umwegen über monetäre Dimensionen und Arbeit vielleicht, macht unfrei insofern, als dass es die Person an diese Arbeit und das mit ihr verbundene hohe monetäre Niveau bindet; sind es auch noch gewohnheitsmäßige hohe Ansprüche, so ist diese Bindung gar langfristig und auf hohem Niveau – und kann zur einschnürenden Fessel werden, so Ihr Argument.

Werte Frau Degen, lassen Sie mich in aller Einfachheit fragen, woher diese Freiheit käme, (was nicht der Frage nach der Natur dieser Freiheit gleichkommt – wenn diese auch mit jener verwandt ist –, welche ebenfalls einer tieferen Erörterung würdig wäre, aber an dieser Stelle vielleicht zu weit oder auf Abwege führte).

Gestatten Sie mir zunächst die Eingangsthese einer bereits in erheblichen Umfang vorhandenen Freiheit im Zustand umfangreicher Bedürfnisse auf hohem monetärem Niveau. Mit der hohen monetären Basis steht – verzeihen Sie mir, wenn ich als hier als Bankier spreche – der Bedürfnisbefriedigungspotential höchster Potenz. Auf hohem monetärem Niveau besteht die mannigfaltigste Befriedigungsmöglichkeit wechselnder, sich verändernder Bedürfnisse, sich weiterentwickelnder Prioritäten und Lebensumstände. Gerade dieses universellste aller Tauschmittel generiert die Freiheit der Entscheidungen seines spezifischen Einsatzes, erweisen sich doch auf mittlere Perspektive praktisch alle sogenannten Fixkosten als quasi-variabel; insbesondere hat es – jenseits der dann dezidierten Entscheidung – die Potenz, auch persönliche äußere Abhängigkeiten abzulösen – die Haushaltsunterstützung oder der Gärtner seien hier nur der Illustration halber benannt. Bedingung dieser Freiheit ist fraglos die erfolgreiche Beteiligung am Erwerbsprozess.

Georg Simmel – nur diesem ist die Wahl des folgenden Beispiels geschuldet – zieht zur gesamthaften Illustration den Prozess der Befreiung der Frau im ausgehenden 18- ten Jahrhundert heran. Lassen Sie mich zuspitzen: Die Erwerbsarbeit der Frau war die Bedingung der Möglichkeit zur Emanzipation und Befreiung der Frau aus und in ihrer gesellschaftlichen Rolle. Die eigenständige Erwerbsarbeit der Frau generierte das Potential, sich aus ihren persönlich-individuellen Bindungen zu befreien. Hatte eine Frau im bürgerlichen Haushalt eine voll versorgte Rolle in persönlicher Abhängigkeit vom Hausherren, so hat sie als eigenständig Erwerbstätige diese Abhängigkeit gegen die unpersönlich systemische Abhängigkeit des Arbeits- und Produktionsprozesses getauscht und die Freiheit monetären Potentials zur eigenen Versorgung ihrer selbstbestimmten Bedürfnisse gewonnen.

Der Tausch der persönlich individuellen Abhängigkeit von der Person des Hausherren gegen die – „nur“ – abstrakt unpersönliche Abhängigkeit von Arbeitsprozessen und Arbeitgebern wird – und wurde de facto – gemeinhin als ‚Netto’-Freiheitsgewinn empfunden.

Ich bin sicher, Sie erahnen und erkennen bereits, die These läuft auf den Tausch unterschiedlicher Freiheiten und Abhängigkeiten gegeneinander hinaus, die als kleinerer oder größerer Freiheitsgewinn empfunden werden mögen. Ich fürchte also, wir müßen nicht über den Gewinn von Freiheit, sondern über die unterschiedlichen Freiheiten und Abhängigkeiten sprechen, die gegeneinander getauscht werden. Die selbstverordnete Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit tauscht die Abhängigkeit vom Arbeits- und Produktionsprozess gegen persönliche Abhängigkeiten; sie tauscht äußere Freiheit von persönlichen Bindungen gegen innere Freiheiten, seinen ganz eigenen Interessen und Neigungen ganz unabhängig von gängigen Vorstellungen der Verwertbar- und Vermarktbarkeit nachzugehen.

Nun scheint Ihre Argumentation auf eine ganz und gar ungewöhnliche Wertung hinauszulaufen: In Ihrer, werte Frau Degen, Empfindung erscheint der Tausch äußerer Abhängigkeiten gegen stärker persönliche als Netto-Freiheitsgewinn. Fast bin ich geneigt, dies mit Ihrem Faible der Nietzsche’schen Umwertung aller Werte in Verbindung zu bringen.

Vielleicht wären Sie ja geneigt, mir diese Auslegungen zu erhellen.

Lassen Sie mich noch anfügen, dass ich mithin eine ganze zweite Dimension Ihrer These ganz unberührt gelassen habe, obwohl sie mir ähnlichen Anlaß zum Kopfzerbrechen bereitet. Es erscheint mir ein Gebot der Schonung, Sie mit dieser Dimension und der in ihr enthaltenen Gedankengänge nicht sogleich auch noch zu konfrontieren – wenngleich ich in erregter Erwartung der Möglichkeit hierzu bin.

Hochachtungsvoll,

Alexander J. Morgenthau