Verehrte Frau Degen,
eine These aus unserem kürzlich geführten, hoch schätzenswürdigen Gespräch läßt mich nun doch nachhaltig nicht ruhen und beschert mir das eine oder andere Kopfzerbrechen in langen Nächten. Deshalb erlaube ich mir, auf diesem Wege Sie teilhaben zu lassen, dass dieses Kopfzerbrechen nicht nur das meine sei, vielmehr aber auch, dass sich aus den geteilten Gedanken neue ganze ergeben mögen.
Eine selbstverordnete gewisse Anspruchslosigkeit, eine gewisse Bedürfnislosigkeit, vor allem auch in materieller Hinsicht, so führten Sie aus, sei Freiheit. Denn schließlich, jeder Anspruch, jedes Bedürfnis, das vehement nach seiner Befriedigung strebt, auf Umwegen über monetäre Dimensionen und Arbeit vielleicht, macht unfrei insofern, als dass es die Person an diese Arbeit und das mit ihr verbundene hohe monetäre Niveau bindet; sind es auch noch gewohnheitsmäßige hohe Ansprüche, so ist diese Bindung gar langfristig und auf hohem Niveau – und kann zur einschnürenden Fessel werden, so Ihr Argument.
Werte Frau Degen, lassen Sie mich in aller Einfachheit fragen, woher diese Freiheit käme, (was nicht der Frage nach der Natur dieser Freiheit gleichkommt – wenn diese auch mit jener verwandt ist –, welche ebenfalls einer tieferen Erörterung würdig wäre, aber an dieser Stelle vielleicht zu weit oder auf Abwege führte).
Gestatten Sie mir zunächst die Eingangsthese einer bereits in erheblichen Umfang vorhandenen Freiheit im Zustand umfangreicher Bedürfnisse auf hohem monetärem Niveau. Mit der hohen monetären Basis steht – verzeihen Sie mir, wenn ich als hier als Bankier spreche – der Bedürfnisbefriedigungspotential höchster Potenz. Auf hohem monetärem Niveau besteht die mannigfaltigste Befriedigungsmöglichkeit wechselnder, sich verändernder Bedürfnisse, sich weiterentwickelnder Prioritäten und Lebensumstände. Gerade dieses universellste aller Tauschmittel generiert die Freiheit der Entscheidungen seines spezifischen Einsatzes, erweisen sich doch auf mittlere Perspektive praktisch alle sogenannten Fixkosten als quasi-variabel; insbesondere hat es – jenseits der dann dezidierten Entscheidung – die Potenz, auch persönliche äußere Abhängigkeiten abzulösen – die Haushaltsunterstützung oder der Gärtner seien hier nur der Illustration halber benannt. Bedingung dieser Freiheit ist fraglos die erfolgreiche Beteiligung am Erwerbsprozess.
Georg Simmel – nur diesem ist die Wahl des folgenden Beispiels geschuldet – zieht zur gesamthaften Illustration den Prozess der Befreiung der Frau im ausgehenden 18- ten Jahrhundert heran. Lassen Sie mich zuspitzen: Die Erwerbsarbeit der Frau war die Bedingung der Möglichkeit zur Emanzipation und Befreiung der Frau aus und in ihrer gesellschaftlichen Rolle. Die eigenständige Erwerbsarbeit der Frau generierte das Potential, sich aus ihren persönlich-individuellen Bindungen zu befreien. Hatte eine Frau im bürgerlichen Haushalt eine voll versorgte Rolle in persönlicher Abhängigkeit vom Hausherren, so hat sie als eigenständig Erwerbstätige diese Abhängigkeit gegen die unpersönlich systemische Abhängigkeit des Arbeits- und Produktionsprozesses getauscht und die Freiheit monetären Potentials zur eigenen Versorgung ihrer selbstbestimmten Bedürfnisse gewonnen.
Der Tausch der persönlich individuellen Abhängigkeit von der Person des Hausherren gegen die – „nur“ – abstrakt unpersönliche Abhängigkeit von Arbeitsprozessen und Arbeitgebern wird – und wurde de facto – gemeinhin als ‚Netto’-Freiheitsgewinn empfunden.
Ich bin sicher, Sie erahnen und erkennen bereits, die These läuft auf den Tausch unterschiedlicher Freiheiten und Abhängigkeiten gegeneinander hinaus, die als kleinerer oder größerer Freiheitsgewinn empfunden werden mögen. Ich fürchte also, wir müßen nicht über den Gewinn von Freiheit, sondern über die unterschiedlichen Freiheiten und Abhängigkeiten sprechen, die gegeneinander getauscht werden. Die selbstverordnete Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit tauscht die Abhängigkeit vom Arbeits- und Produktionsprozess gegen persönliche Abhängigkeiten; sie tauscht äußere Freiheit von persönlichen Bindungen gegen innere Freiheiten, seinen ganz eigenen Interessen und Neigungen ganz unabhängig von gängigen Vorstellungen der Verwertbar- und Vermarktbarkeit nachzugehen.
Nun scheint Ihre Argumentation auf eine ganz und gar ungewöhnliche Wertung hinauszulaufen: In Ihrer, werte Frau Degen, Empfindung erscheint der Tausch äußerer Abhängigkeiten gegen stärker persönliche als Netto-Freiheitsgewinn. Fast bin ich geneigt, dies mit Ihrem Faible der Nietzsche’schen Umwertung aller Werte in Verbindung zu bringen.
Vielleicht wären Sie ja geneigt, mir diese Auslegungen zu erhellen.
Lassen Sie mich noch anfügen, dass ich mithin eine ganze zweite Dimension Ihrer These ganz unberührt gelassen habe, obwohl sie mir ähnlichen Anlaß zum Kopfzerbrechen bereitet. Es erscheint mir ein Gebot der Schonung, Sie mit dieser Dimension und der in ihr enthaltenen Gedankengänge nicht sogleich auch noch zu konfrontieren – wenngleich ich in erregter Erwartung der Möglichkeit hierzu bin.
Hochachtungsvoll,
Alexander J. Morgenthau
Sehr geehrter Herr Morgenthau,
verschonen Sie mich mit Ihrer Schonung, als hätte ich diese nötig oder gar verdient. Meine von Ihnen fälschlicherweise als Empfindung bezeichnete Überzeugung, ist durch eine Wichtung und Bewertung begründet und entstanden, deren Logik Ihnen leider verschlossen bleiben mußte. Sind Sie doch eher ein Getriebener, ein Lustwandelnder, ein Bedürftiger.
In einem Ihrer Nietzsche-Bände den die Nummer 3 ziert, finden Sie in „Die fröhliche Wissenschaft“ unter 205: „Bedürfnis.- Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.“ Wenn das Bedürfnis eine Wirkung wäre, eine Folge also, wie würde sich die Freiheit in Relation verhalten?
Würde dieses Zitat Ihre Frage doch schon indirekt beantworten können, bin ich geneigt etwas ausführlicher zu antworten und es meiner These voranzustellen: Die Freiheit im Wandel der Bedürfnisse – ein Tauschhandel.
Die mannigfaltigste Befriedigungsmöglichkeit der wechselnden und sich verändernden Bedürfnisse, die Sie dem hohen monetären Niveau zuschreiben, übersieht aus meiner Sicht gerade den Verlust anderer Bedürfnisse (u.a. auf niedrigerem monetärem Niveau).
Und mit jedem gestillten Bedürfnis entstehen mindestens zwei weitere. Damit begründe ich nicht den Verlust an absoluter, sondern an relativer Freiheit und den Zugewinn an Komplexität, an Opportunität! Mit den zunehmenden Möglichkeiten geht systembedingt eine Beschränkung einher, durch Ort bzw. Raum und Zeit. Sie müssen einfach öfter wählen, sich entscheiden und was viel schwerer wiegt: sich darin verantworten. Was ich als eigentlichen Verlust wahrnehme bzw. werte, ist die fehlende bzw. nicht anhaltende Sättigung – BeFriedigung. Meine kultivierte Anspruchslosigkeit kleinster Potenz, setzt einen Grad an Bedürfnisbefriedigung voraus, der diese erst ermöglicht. Da wo Ihnen – gleich einem Geschwür – neue Bedürfnisse wuchern, nutze ich Ressourcen und Freiheitsgrade, dieser Vermehrung Einhalt zu gebieten, mit meist nur temporärem Erfolg. Dabei stelle ich – einer gedanklichen Ohnmacht nahe – fest, dass Ihnen ohne diese Beschränkungen gerade Wohlwollen und sogar Wohlsein eher gelingen. Und mich überkommt der Verdacht: Sie bleiben angesichts Ihrer schwindelerregenden Freiheit, vor allem ein Genießender?
Wie immer am Ende kleinlauter,
Ihre Vera Degen
Damit Ihnen nicht allzu langweilig wird, empfehle ich noch 611 aus Menschlich, Allzumenschliches I und folgenden mickrigen Versuch ein Maß für die Freiheit zu finden, welches meinen Ansatz abbilden sollte, der die (positiven und negativen) Bewertungen der Freiheitsgrade nicht vernachlässigt:
• Summe gewichteter dfa: wahrgenommene/aktive Freiheitsgrade zum Zeitpunkt t = Fa
• Summe gewichteter dfi: abgewählte/inaktiven Freiheitsgrade zum Zeitpunkt t = Fi
• Summe gewichteter dfn: unbekannte/theoretisch aktivierbare Freiheitsgrade zum Zeitpunkt t = Fn
• Addition dieser gewichteten Freiheitsgrade ergibt Fa+ Fi + Fn = FG Wert der gesamten gewichteten Freiheitsgrade zum Zeitpunkt t
Einerseits durch Wahl, andererseits als Folge ergeben sich zum Zeitpunkt t (für das einzelne Individuum X) Freiheitsgrade dfa. Deren Wichtung und anschließende Addition, Fa umgekehrt ins Verhältnis gesetzt zu Fi, also Fi/Fa würde ich als Maß Fx (der Freiheit des Individuums X zum Zeitpunkt t) für weitere Betrachtungen vorschlagen (wobei Fa ≠0).
(Bei 27 Bedürfnissen, hier einfachheitshalber mit 1 gewichtet, würde F von 0/27 bis zu 26/1 erreichen und bei 81 ebenfalls von 0 bis 81.)
Den Zugewinn an aktuellen Freiheitsgraden nutze ich um den relativen Grad an Freiheit Fx zu steigern, durch Verzicht, durch Beschränkung auf andere Freiheiten, durch „Bedürfniskultivierung“.
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