Wir lebten – so könne man feststellen – neuerdings im „postfaktischen Zeitalter“; – was alles gleich so ein Zeitalter ist. Weithin gilt eine Zeitalter-Typisierung als eine Verallgemeinerung, die beansprucht, in ihrem Begriff die Essenz einer Zeit zu charakterisieren, ein dominantes Merkmal dieser Zeit herauszukristallisieren. „Wir leben heute im digitalen Zeitalter“ – die alle Lebensbereiche und Lebensweisen durchsetzende und durchdringende Digitalisierung kann vielleicht als Zeitalter-Beispiel herhalten, aber das Postfaktische …?!
Ist in diesem Sinne das Postfaktische nicht eher postfaktischer Moment – immerhin als Wort des Jahres 2016 gekürt –? Es sei die deutsche Version des englischen „post-truth“; es beschriebe die Tatsache, dass nicht mehr Fakten zu einer Bewertung entscheidend seien, sondern dass nur noch emotional beurteilt würde; an die Stelle „objektiver Wahrheit“ sei die emotionale, die „gefühlte Wahrheit“ getreten. Aktuell werden gar „alternative Fakten“ angeboten, deren Angebot allein die ursprünglichen Fakten in Frage stellen könne. Aber in aller Offenheit – hatten wir das „faktische Zeitalter“ schon, das Zeitalter, in dem nur die Fakten zählen, oder haben wir das übersprungen, vielleicht gar durchtunnelt?
Das „Fakt“, was da Geltung haben soll, – „X ist Y“ – wie wird das Fakt zum Fakt? Fakten werden durch Aufzeichnungen, Dokumente, Bilder gestützt, sie werden von Historikern, Journalisten, von Menschen aufgezeichnet, interpretiert und weitergegeben, sie sind Artefakte zweiter Ordnung, die „X ist Y“ als Geschehen in der Welt gleichsam repräsentieren. Und solange diese un- oder wenig widersprochen und in sich konsistent sind, gilt das repräsentierte Fakt als Fakt. Entscheidend erscheint die Quelle und die Methode hinter der Dokumentation, der Aufzeichnung und Weitergabe. „Deutschland hat aktuell 81.302.329 Einwohner“ – als Fakt anerkannt zu werden, bedeutete sich Klarheit über die Quelle und insbesondere die Methode hinter der Zählung zu verschaffen.
Etwas wird uns zum Fakt aus den – eigentlich niemals ganz abgeschlossenen, aber willentlich vielleicht durch Anerkennung beendeten – Diskursen zu Geltungskraft und -konsistenz seiner Belege, Dokumentationen und Überlieferungen. Und schließlich wird sie uns vielleicht gar zu (historischen) Wahrheiten – von denen schon Lessing sagte, sie können der Beweis notwendiger Vernunftswahrheiten nie werden.
Dem postfaktischen Moment wohnt allerdings offensichtlich eine starke Dialektik inne. „Fact-Checker“ und dahinterliegende Systeme erfreuen sich großer Beliebtheit; die Recherche-Kapazitäten der Redaktionen großer Medienunternehmen werden drastisch aufgestockt; die Reichweite öffentlicher Diskurse zu Anspruch und Geltung von Aussagen sowie die Bereitschaft, sich an selbigen zu beteiligen, scheint deutlich zu wachsen.
Das ein wenig dämmerig und duselig, das so unsexy gewordene Zeitalter der Aufklärung, es wird gerade angepiekst, vielleicht wiederbelebt – sapere aude!