Nachtfahrten – Briefe II

Verehrte Frau Degen,

noch harre ich, zugegebener Maßen, in neugieriger Erwartung auf Ihre Überlegungen zu meiner These des Tausches von Freiheiten und Abhängigkeiten für eine selbstverordnete Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit. Angesichts der vielfältigen Verpflichtungen, in denen Sie derzeitig verstrickt sind, erscheint mir dies fraglos verzeihlich. Vielleicht aber auch stellt sich nun die moderne elektronische Versendung doch nicht als der zuverläßige Weg heraus, als der er gemeinhin erscheint.

Sie mögen mir bitte verzeihen, daß ich – ihrer Antwort zuvorkommend und nicht im Sinne der Ablenkung von einer solchen – Sie bereits heute schon auf eine weitere Perspektive dieser selbstverordneten Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit hinlenken möchte.

Der selbstverordneten Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit voraus läuft, so legten Sie dar, ein grundsätzlicher Mechanismus, der dem kapitalistischen System immanent sei. Steigendes monetäres Niveau führe nicht etwa irgendwann zur Befriedigung und Sattheit der Ansprüche und Bedürfnisse, sondern – ganz im Gegenteil – scheint die Tendenz in sich zu tragen, die Ansprüche und Bedürfnisse umso mehr in die Höhe zu treiben. Die menschliche Natur neigt in ihrer Bedürfnisbefriedigung klar zum unbegrenzten Maximieren denn zum Saturieren.
– Wenn Sie mir an dieser Stelle den Einschub erlauben: Meiner Einschätzung nach ist gerade die in der Natur des Menschen liegende prinzipielle Unendlichkeit der menschlichen Bedürfnispotentiale durch weiterentwickelnde Spezialisierung und Ausdifferenzierung eben dieser Bedürfnisse der hochwirksame essenzielle Treibstoff des Kapitalismus. –
Eine inverse Bewegung allerdings, so Ihr Argument, erscheint nicht einfach möglich: Eine Verringerung der Ansprüche und Bedürfnisse auf ein sinkendes monetäres Niveau sei eher Verhängnis für den Menschen, denn leicht und zufrieden möglich; – und wer wisse schon, wie unglücklich solche Rückschritte machen könnten, und wie schwierig diese seien? Insofern sei also ein steigender monetärer Status berechtigter Weise mit steigender Sorge und Angst verbunden, was ein vielleicht erzwungener Abstieg bedeutete. Besser also, man vermeide dies und beschränkt sich schon vorauseilend willentlich, so daß diese Angst vor dem Verlust und der Wirkung etwaiger Einschränkungen erst gar nicht sich entwickeln könne.

Im Kern, werte Frau Degen, ist die Angst vor dem Wachsen der Bedürfnisse die Angst vor der Angst des Verlustes und seiner Auswirkungen, gleichsam eine Potenzierung der Angst; sie ist es, die zum selbstverordneten Verzicht führt. Erscheint in einer Perspektive Freiheit gewonnen durch willentliche Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit, so ist es gerade die Angst vor der Bedürfnisbefriedigungsverlustangst, die in sich unfrei macht – denn: die Angst ist die Grenze unserer Freiheit (I. Bergmann). Nicht hohe monetäre Potenz, sondern die Angst vor dem Verlust der monetären Potenz macht unfrei.

Lassen Sie mich – auch auf die Gefahr hin, eine vielleicht in Ihrer Einschätzung zu übertriebene Zuspitzung vorzunehmen – in meinem Argument noch weiter voranschreiten: „Sag’ mir Deine größte Angst, und ich sage Dir Deine größte Unfreiheit“. Denn gerade Angst hat größte formative Kraft auf die Ausgestaltung unseres Da-Seins. In den Lyrics des von mir sehr geschätzten Ben Howard:

I’ve been worrying that we all
live our lives in the confines of fear

Oh’, I will become what I deserve.

Scheint also selbstverordnete Anspruchs- und Bedürfnislosigkeit in gewisser Hinsicht Freiheiten, immerhin als Tausch gegen Abhängigkeiten, zu schaffen, so erscheint mir – und dies sage ich nicht als Affront, verehrte Frau Degen – die Bewegung dorthin durch eine zugrundeliegende Unfreiheit im Da-Sein getrieben zu sein.

Ich bin nun geneigt, diese Ausführungen einmal so in unserer Diskurslandschaft stehen zu lassen, und diese ganz Ihrer werten Reflexion und Kritik anheim zu stellen – bin ich mir doch bewußt, daß meine Ausführungen zu solcher sicher berechtigten Anlaß geben mögen.

Ich verbleibe hochachtungsvoll,

Alexander J. Morgenthau

Autor: AMorgenthau77

Alexander Johann Morgenthau, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau, studierte nach einer Banklehre bei der Deutschen Bank Jura an der Universität Münster und war bis 2008 bei der Bank of Scotland in Frankfurt am Main, London und Edinburgh im Investment Banking tätig. Nach einem 3 jährigen Engagement in der Unternehmensberatung und einem Studium der Philosophie an der Universität Bonn ist Alexander J. Morgenthau als freier Autor und Berater tätig. Alexander J. Morgenthau lebt im Raum Frankfurt am Main.

Ein Gedanke zu „Nachtfahrten – Briefe II“

  1. Lieber Herr Morgenthau,
    es wundert mich nur ein wenig, dass meine letzte Antwort Sie nicht erreicht hat. Doch bin ich Narr genug, mich davon nicht entmutigen zu lassen und weiter ganz zu Ihrem (und meinem) Vergnügen gegen einen Filter anzuschreiben, der Schonung und Zensur sein könnte, da wo (Über-)Mut und einfältige Offenheit zum Verhängnis werden könnten.
    Ich kann Ihren Ausführungen nur zustimmen, doch würde ich diese Angst nicht als ein ausschließliches Hemmnis werten. Verstehe ich diese doch gerade auch als Ausdruck meiner Erfahrungen und meines Gewissens, als Warnung – als WAHRnung. Doch da sehen Sie sich wohl, aufgrund anderer Erfahrungen, ganz anderen Ängsten ausgesetzt.
    Und deshalb ganz in Ihrem Sinne schließend: „Was ist Ihre größte Angst?“

    Mit freundschaftlichen Grüßen,
    Vera Degen

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